Lesbos oder die verlorene Seele Europas
23. September 2020 von H. Wittmann
Image par Thomas Meier, Pixabay
Für alle, die glauben, dass Europa ein Projekt des Friedens und der Solidarität ist, ist das, was sich in den letzten zwei Tagen auf der griechischen Insel Lesbos ereignet hat, eine Tragödie und eine Schande. Auf Lesbos gehen nicht nur Zelte und Infrastruktur in Rauch auf, sondern auch die Seele und die Werte Europas. Vor dem Brand lebten mehr als 13.000 Flüchtlinge im Lager Moria, darunter 4.000 Kinder, unter hygienischen Bedingungen und in einer Überbevölkerung von seltener Demütigung, ohne Zugang zu Duschen und Toiletten. 13.000 Flüchtlinge entspricht der vierfachen Kapazität des Lagers. Diese Tausende von Menschen sind nun auf der Insel Lesbos obdachlos.
La version française de cette tribune: > www.pyleborgn.eu/2020/09/lesbos-ou-lame-perdue-de-leurope/
Unserer Traurigkeit Ausdruck verleihen, ist das Mindeste, was wir angesichts dieser Tragödie tun können. Einige europäische Regierungen (nicht alle…) haben dies getan. Aber ihre Traurigkeit ist keine Antwort. Die Antwort wäre die lang erwartete und noch immer verzögerte Reform der Migrationspolitik der Europäischen Union. Man darf nicht länger zögern oder es zulassen, dass die öffentliche Meinung gegen die Werte Europas ausgespielt wird. Es ist die Schließung der nationalen Grenzen für Asylbewerber, die die Insel Lesbos zu einem Engpass und das Lager in Moria zu einem Freiluftgefängnis gemacht hat. Dort haben sich Gewalt, Menschenhandel aller Art, Prostitution und Entführung von Minderjährigen entwickelt.
Die Brände im Lager von Moria stehen für eine Verzweiflung aus, die dringend erhört werden muss. Wann wird die Dublin-Verordnung reformiert, die jetzt noch dazu führt, dass Griechenland und Italien auf Lampedusa für ganz Europa zuständig sind? Es ist sinnlos und unfair zu verlangen, dass das Einreiseland dasjenige sein soll, wo die Migranten aufgenommen werden. Dies muss die gemeinsame Verantwortung der 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sein. Ein Auge zuzudrücken oder Finanzmittel zu versprechen, um den Status quo zu erhalten, ist keine Antwort. Die Antwort muss die Bereitstellung einer würdigen Aufnahme von Flüchtlingen sein, auf der Grundlage ihrer Verteilung auf die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.
Das Asylrecht ist universell. Es beruht auf einer würdigen Aufnahme der Antragsteller, die vor Drohungen und Verfolgung fliehen und um ihr Leben und das ihrer Familie kämpfen. Lassen wir nicht zu, dass Egoismus, Hartherzigkeit und Fremdenfeindlichkeit über Chaos, Not und kleinlicher Feigheit gedeihen. Im Vorfeld der Vorlage des Entwurfs eines Paktes zu Migration und Asyl durch die Europäische Kommission ist es wichtig, dass sich Deutschland und Frankreich entsprechend ihrem Bekenntnis zur europäischen Solidarität angesichts der Krise für eine gerechte, faire und humane Reform der Dublin-Verordnung einsetzen, eine Reform, die den Werten Europas und seinem Friedensprojekt im Zusammenhang mit dem Recht angemessen ist.
Heiner Wittmann (Gründer des Frankreich-Blog) und Pierre-Yves Le Borgn’ (ehemaliger Abgeordneter für die Franzosen im Ausland)
La version française de cet appel : > www.pyleborgn.eu/2020/09/lesbos-ou-lame-perdue-de-leurope/
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> Nachgefragt. #Corona-Virus : La France, l’Allemagne et l’Europe. Pierre-Yves Le Borgn’ nous répond