André Gide – 22. November 1869 – 19. Februar 1951
19. Februar 2021 von H. Wittmann
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Wir erinnern an André Gide. Heute ist sein 70. Todestag.
Gide stammte aus einer protestantischen bürgerlichen Familie. Sein Vater stirbt 1880. Gide wächst fast ausschließlich unter Frauen auf. 1891 erschienen seine Erstlingswerke Les Cahiers d’André Walter (Die Aufzeichnungen und Gedichte des André Walter, 1969). Ab 1891 ist er zu Gast bei den Dienstagsabenden Stéphane Mallarmés im Kreis der Symbolisten, deren Einfluss in Gides Gesamtwerk zu erkennen ist. 1893-1895 reist er nach Nordafrika, entdeckt dort für sich eine Gefühlswelt ohne Grenzen und hat, wie man heute sagt, sein Coming-out, das er in L’immoraliste, 1902 (Der Immoralist. 1905) bestätigt, wenn auch auf eine eher diskrete Weise, bevor er wieder ausführlicher in Corydon, 1924, (dt. 1932) explizit darauf zurückkommt. 1895 heiratet er seine Cousine Madeleine Rondeaux (1867–1938). Zwei Jahre später erscheint Nourritures terrrestres und Les nouvelles nourritures, (Uns nährt die Erde, 1930, Die Früchte der Erde 1935, Neue Früchte der Erde, 1999): das Kultbuch einer ganzen Generation – alle Sinnesempfindungen werden in einer exaltierten Weise dargestellt: einem jungen Schüler, Nathanaël, wird die Befreiung von allem gelehrt: „Nathanël, ich lehre Dich die Inbrunst.“ (S. 21)
Mit Jacques Copeau, Jacques Rivière und Jean Schlumberger gründet Gide 1908 die Nouvelle revue française. Mit La porte étroite, 1909 (Die enge Pforte. 1909) und Isabelle, 1911, beginnt sein Durchbruch. 1914 veröffentlicht Gide die Sotie Les caves du Vatican (Die Verliese des Vatican, 1922) mit der berühmten Passage des Acte gratuit, als der Protagonist Lafcadio seinen Mitreisenden Amédé Fleurissoire auf einer Brücke aus dem Zug wirft.
Die Symphonie pastorale, 1919 (Die Pastoralsymphonie, 1925) zählt zu seinen besonderen Erfolgen.
Es ist diese Erzählung, die sein Werk besonders gut charakterisiert.
Ein Pastor wird zu einer Sterbenden geholt und findet in der einsamen Hütte ein blindes Mädchen, veilleicht fünfzehn Jahre alt. Er nimmt sie mit zu sich nach Hause. Seine Frau Amélie kümmert sich um das Adoptivkind, die Gertrude genannt wird. Sie nehmen sie zu einem Konzert mit, wo die Pastoralsymphonie gespielt wird: “Longtemps après que nous eûmes quitté la salle de concert, Gertrude restait encore silencieuse et comme noyée dans l’extase.” (S. 25)
Leider vergriffen: >>>
Jacques und Gertrude verlieben sich inander und wollen heiraten. Der Pastor verbietet es. Später sagt Gertrude dem Pastor ganz umumwunden, er liebe sie. Es kommt zur Operation und Gertrude kann sehen, wie traurig Amélie ist. Gertrude nimmt sich das Leben.
Les Faux monnayeurs (Die Falschmünzer, 1928) erscheint 1925. Wie Gide dies selbst betonte, sein erster Roman. In ihm setzt sich der Romancier Édouard daran, einen Roman zu verfassen. Es geht um die Epik des Romans, die verschiedenen Stationen seines Entstehens, denen eine Aufmerksamkeit gewidmet wird, die das eigentliche Werk übersteigt. Die Ereignisse und die Figuren treten dabei in den Hintergrund, denn Edouard versucht für sich und den Roman die Realitäten zu ordnen, was er in seinem Journal d’Édouard, aus dem immer wieder Abschnitte in den Falschmünzern erscheinen, festhält: „Für mich gibt es nur eine poetische (Und dieses Wort gebe ich in seiner umfassenden Bedeutung hier wieder) Existenz, um schon mal nur mit mir anzufangen. Es scheint mir manchmal, dass ich nicht wirklich existiere, aber ich stelle mir einfach nur vor, dass ich bin.“ (Les Faux monnayeurs, 1925, S. 73, übers. v. H.W) Wie ihn als Hauptperson gibt es im Roman weitere Personen wie Bernard Profitendieu oder Lucien Bercail, die sich auch über den Wert ästhetischer Betrachtungen aus ihrem Milieu lösen möchten. Später notiert Édouard in seinem Tagebuch: „Ich beginne das zu begreifen, was ich das, eigentliche Thema‘ meines Buches nenne, das wird, ganz ohne Zweifel, die Rivalität zwischen dem realen Leben und der Vorstellung sein, die wir uns von ihr machen.“ Les Faux monnayeurs, 1925, S. 201, übers. v. H.W) In einem gewissen Sinne dokumentieren die Falschmünzer Gides eigene Überlegungen zur Gattung des Romans oder überhaupt einer auch zu einer Episode in diesem Roman, in der es wirklich um Falschgeld geht.
Dem Studium der Menschen galt immer sein besonderes Interesse, insoweit folgt er seinem Vorbild Montaigne und dessen Individualismus: Essais sur Montaigne, 1929 und Les pages immortelles de Montaigne. Choisies et expliquées par André Gide, 1946, (Denken mit Michel de Montaigne: Eine Auswahl aus den Essais, vorgestellt von Andre Gide, aus dem Französischen und mit einem Nachwort von H. Helbling, 2005) Das Thema »individueller Freiheit« wird sein ganzes weiteres Werk bestimmen. Eine Autobiographie Si le grain ne meurt (1924) wird 1930 unter dem Titel Stirb und werde übersetzt. Ab 1889 führte Gide sein berühmtes lebenslanges Tagebuch: Journal intime, 1952, (Intimes Tagebuch, 1952), in demer immer wieder auf sein Hauptthema zurückkommt, der Mensch habe sich so zu akzeptieren, wie er sei: Schon 1897 schreibt in er den Nouvelles nourritures terrestres. „Ich mag nichts, was den Menschen herabsetzt; nichts, was dazu neigt, ihn weniger weise, weniger selbstbewusst oder weniger reaktionsschnell zu machen. Denn ich akzeptiere nicht, dass Weisheit immer von Langsamkeit und Misstrauen begleitet wird. Das ist auch der Grund, warum ich glaube, dass in einem Kind oft mehr Weisheit steckt, als in einem alten Mann.“ (Les nouvelles nourritures, in: Les nourritures terrestres, 1917-1936, S. 230, übers. v. H.W.)
Gide wollte sich und seine Leser von allen Zwängen, von jedem Anspruch moralischer Art befreien. Keine überkommene Konvention sollte gelten. Ihm ging es um das authentische Ich. Seine Kritik ist fundamental, für ihn zählt in erster Linie das Individuum. Gide vereinigt in seinem Werk alle Stilgattungen: Dichtung, Roman, Erzählungen, Theaterstücke, Essais, Sotties und Zeitungsartikel. Seine vielen Reisen machten ihn international bekannt. 1947 erhält der den Nobel-Preis für Literatur.
In Was ist Literatur? (1947) zitiert Sartre Die Früchte der Erde als ein Beispiel für die Geisteswerke, die in sich das Bild des Lesers tragen, für den sie bestimmt seien. In diesem Sinne könne er, so Sartre, nach der Lektüre ein Porträt Nathanëls anfertigen und der Entfremdung, von der sich lösen solle. Die einzige Gefahr, in die er gerate, sei die, sich von seinem Milieu nicht lösen zu können.
Auch wenn Gide nach eigenem Ermessen nur einen Roman verfasst hat, der zudem auch noch das mögliche Scheitern dieser Gattung berichtet, so gilt sein Gesamtwerk doch den Überlegungen, wie die Mittel der Ästhetik und der Epik die Kunst bestimmen, einen Roman zu schreiben Damit verbunden ist die Suche nach dem Individuum, seiner Autonomie, die als Thema das Gesamtwerk Gides kennzeichnet, der stets nach den Werten forscht, die das Leben ausmachen und bestimmen.